29. Juli 2024
Die Europäische Kommission legte am 26. Oktober 2022 einen Vorschlag für eine neue EU Richtlinie über kommunales Abwasser vor. Das Ziel der Richtlinie ist der Schutz der Umwelt vor den schädlichen Auswirkungen durch Abwassereinleitungen aus bestimmten Industriebranchen. Der neue Richtlinienvorschlag soll die bestehende EG-Richtlinie 91/271/EWG zur Behandlung von kommunalem Abwasser novellieren. Das Gesetzgebungsverfahren läuft derzeit noch – der Abschluss und damit das Inkrafttreten steht allerdings unmittelbar bevor1.
Infolge der neuen Regelungen kommen absehbar erhebliche zusätzliche Kosten und auch Organisationsaufwand auf die betroffenen Pharma-Unternehmen zu. Nach einer Pressemitteilung von BAH, BPI, progenerika und vfa2 aus April 2024 belaufen sich die zusätzlichen Kosten in den nächsten 30 Jahren schätzungsweise auf mehr als 36 Milliarden Euro –allein für Pharma-Unternehmen in Deutschland.
Wesentlicher Bestandteil der neuen EU Kommunalabwasserrichtlinie sind verschärfte Anforderungen an die Abwasserbehandlung in den von Gemeinden betriebenen Kläranlagen – insbesondere verschärfte Grenzwerte mit Blick auf Mikroschadstoffe. Diese verschärften Grenzwerte für Mikroschadstoffe sollen durch zusätzliche Reinigungsvorgänge bei der Abwasserbehandlung (sogenannte 4. Reinigungsstufe3) eingehalten werden. Daran knüpft ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Novellierung: die neue „Erweiterte Herstellerverantwortung“4. Gemeint ist damit eine (verpflichtende) Kostenbeteiligung von (insbesondere) Arzneimittelherstellern für den Ausbau der 4. Reinigungsstufe.
Vor dem Hintergrund der geplanten Novellierung der Kommunalabwasserrichtlinie haben unsere Expertin für Regulatorische Fragen, Dr. Andrea Sautter, und unser Experte für das Umwelt- sowie speziell das Wasserrecht, Kris Breudel, LL.M. (Aberdeen), einige Fragen zum Vorschlag der Kommission mit Blick auf die davon wesentlich betroffenen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie beantwortet:
Die EU Kommission geht davon aus, dass über 90 % der im Abwasser vorgefundenen Mikroschadstoffe durch Pharmazeutika und Kosmetika verursacht werden. Für die Beseitigung dieser Mikroschadstoffe plant die Kommission, den Mitgliedsstaaten aufzugeben, Kläranlagen so auszubauen, dass sie Abwasser einer 4. Reinigungsstufe unterziehen können. Für die Kosten zur Erreichung der 4. Reinigungsstufe sollen auch die Hersteller von Arzneimitteln und Kosmetika in Anspruch genommen werden. Die Höhe der Kostenbeteiligung soll sich an der Menge und der Toxizität der in Verkehr gebrachten Produkte bestimmen.
Grundsätzlich sollen alle Hersteller von Humanarzneimitteln oder Kosmetika zur Kostenbeteiligung verpflichtet werden.5 Zu diesem Zweck ist der Anwendungsbereich des Richtlinien-Vorschlags besonders weit ausgestaltet:
Als „Hersteller“ gilt zunächst jeder Erzeuger, Einführer oder Händler, der gewerbsmäßig Produkte in einem Mitgliedstaat in Verkehr bringt. „In Verkehr bringen“ meint die erstmalige Bereitstellung auf dem Unionsmarkt6. Was unter der „erstmaligen Bereitstellung“ zu verstehen ist, definiert die Kommunalabwasserrichtlinie selbst nicht. Ein Blick in andere EU-Regelwerke7 zeigt, dass unter der „Bereitstellung“ häufig eine (un)entgeltliche Abgabe eines Produkts zum Vertrieb, zum Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Unionsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit verstanden wird.
Somit dürften in der Praxis Großhändler, die das Arzneimittel vom Zulassungsinhaber innerhalb der Europäischen Union beziehen, nicht als im Abwasserrecht verantwortlicher „Inverkehrbringer“ gelten, sondern nur der Zulassungsinhaber, welches das Arzneimittel auf dem Unionsmarkt erstmalig abgibt (an einen Händler).
Die Definition von Humanarzneimitteln entspricht der Definition aus dem Humanarzneimittelkodex, soweit sie entweder gewerblich zubereitet werden oder bei deren Zubereitung ein industrielles Verfahren zur Anwendung kommt.8
Ausgenommen sind lediglich Hersteller, bei denen die Menge der „Substanzen“ in den von ihnen in Verkehr gebrachten Produkten weniger als eine Tonne pro Jahr ausmachen oder Hersteller, die nachweisen können, dass die von Ihnen in den Verkehr gebrachten Produkte am Ende ihrer Lebensdauer keine Mikroschadstoffe im Abwasser hinterlassen.9
Mit der Erweiterten Herstellerverantwortung sollen die betroffenen Hersteller 80 % der „Gesamtkosten“ für Ausbau und Betrieb der Kläranlagen, für vorgesehene Abwasser-Überwachungsmaßnahmen und Kosten für die Erhebung und Überprüfung von Daten über in Verkehr gebrachte Arzneimittel tragen.10 Außerdem sollen noch „sonstige Kosten“, die im Rahmen der Wahrnehmung der Erweiterten Herstellerverantwortung anfallen, erfasst werden. Welche Kosten unter „sonstigen Kosten“ zu verstehen sind, lässt der Richtlinien-Vorschlag offen.11
Der Entwurf der EU Kommunalabwasserrichtlinie sieht vor, dass Hersteller sich in einem ersten Schritt einer „Organisation für Herstellerverantwortung“ anschließen, die eigens mit Blick auf die Erweiterte Herstellerverantwortung gegründet wird12. Die Hersteller sollen verpflichtet werden, diese Organisation einmal jährlich darüber zu informieren,
Dabei sieht der Richtlinien-Vorschlag auch Veröffentlichungen von Informationen durch die Organisation vor: Sie soll insbesondere öffentlich machen, welche Hersteller sich der Organisation angeschlossen haben und welche finanziellen Beiträge die betroffenen Hersteller an die Organisation leisten.13
Jede solche Organisation für Herstellerverantwortung muss einen klar definierten geografischen Zuständigkeitsbereich haben und über die erforderlichen finanziellen und organisatorischen Mittel verfügen, um den Verpflichtungen der Hersteller im Rahmen der erweiterten Herstellerverantwortung nachzukommen14. In einem Mitgliedsstaat kann es auch mehrere Organisationen für Herstellerverantwortung geben.
Ein betroffener Hersteller muss in jedem EU-Mitgliedsstaat, in dem er Produkte auf den Markt bringt, die Erweiterte Herstellerverantwortung erfüllen. Je nach geographischer Reichweite einer Organisation für Herstellerverantwortung, muss ein Hersteller ggf. in mehreren solchen Organisationen Mitglied werden. Der Grenzwert von einer Tonne von in den in Verkehr gebrachten Produkten enthaltenen „Substanzen“ bezieht sich auf den gesamten Unionsmarkt.
Da es sich bei dem Vorschlag der EU Kommission um die Novellierung einer Richtlinie handelt, sind die neuen Regelungen darin für Pharma-Unternehmen auch nach In Kraft treten der Kommunalabwasserrichtlinie auf europäischer Ebene nicht unmittelbar rechtsverbindlich. Damit die neuen Regelungen wie etwa die Erweiterte Herstellerverantwortung rechtsverbindlich werden, muss zunächst der nationale Gesetzgeber tätig werden.15 Es ist daher bisher nicht absehbar, wann genau die Unternehmen verpflichtet sein werden, die neuen Regelungen einzuhalten.
Dem deutschen Gesetzgeber bleiben nach dem Inkrafttreten der Richtlinie grundsätzlich zwei Jahre Zeit für die Umsetzung in deutsches Recht. Die Erweiterte Herstellerverantwortung soll drei Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie wirksam werden16. Der übrige Zeitplan der Kommission ist allerdings ambitioniert und könnte (weiteren) Handlungsdruck auf den deutschen Gesetzgeber ausüben:
Nach dem Richtlinien-Vorschlag sollen 50 % der Kläranlagen in Gemeinden mit mindestens 100.000 Einwohnern bis zum 31. Dezember 2030 bis zur 4. Reinigungsstufe ausgebaut werden.17
Bis zum 31. Dezember 2035 sollen außerdem
in Gemeinden mit mindestens 100.000 Einwohnern alle Kläranlagen die 4. Reinigungsstufe erreicht haben und
in Gemeinden mit 10.000 bis 100.000 Einwohner 50 % der Kläranlagen zur 4. Reinigungsstufe ausgebaut werden; dies gilt allerdings nur, wenn das kommunale Abwasser in Gebiete abgeleitet wird, in denen die Konzentration oder Akkumulation von Mikroschadstoffen ein Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt darstellt.18
EU Richtlinien allein für die Mitgliedsstaaten verbindlich – nicht hingegen für Unternehmen mit Sitz innerhalb eines Mitgliedsstaates wie etwa in Deutschland, siehe Hinweise oben in Ziffer V. Unternehmen können also nicht gegen die novellierte EU-Kommunalabwasserrichtlinie selbst vorgehen. Sobald der deutsche Gesetzgeber tätig wird, können betroffene Unternehmen auf politischer Ebene am Gesetzgebungsverfahren teilhaben, oder sich später im Wege einer Verfassungsbeschwerde oder gegen Umsetzungsmaßnahmen gerichtlich wehren.
Die geplante Sonderabgabe für Arzneimittelhersteller zur Finanzierung einer vierten Reinigungsstufe in Kläranlagen wird bereits als verfassungswidrig angezweifelt.19 Sollte die geplante Sonderabgabe sich als nicht mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar herausstellen, ist unklar, wie es für die betroffenen Unternehmen ausgehen würde, da das Verhältnis von Europarecht und Grundgesetz bis heute als ungeklärt bezeichnet werden kann. Das EU-Unionsrecht genießt zwar grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht (auch vor dem nationalen Verfassungsrecht), steht aber nicht „über“ dem Grundgesetz. Zwischen der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland und der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft besteht kein Über- oder Unterordnungsverhältnis. Die grundsätzliche Vereinbarkeit des Unionsrechts mit dem Grundgesetz ist in Art. 23 GG (sogenannter „Europa-Artikel“) niedergelegt.
Sie haben Fragen zur Erweiterten Herstellerverantwortung bzw. wasserrechtlichen Compliance und/oder den umweltrechtlichen sowie weiteren Herausforderungen für Ihr Unternehmen? Wir freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme.
1 https://eur-lex.europa.eu/procedure/EN/2022_345; sowie zum aktuellen Stand des Entwurfs der Richtlinie, (nur als englische Fassung) abrufbar unter https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7108-2024-INIT/en/pdf (zuletzt abgerufen am 23. Juli 2024).
2 Pressemitteilung vom 11. April 2024, abrufbar unter: https://www.pharmadeutschland.de/newsroom/news/artikel/kosten-fuer-abwasserreinigung-muessen-gerechter-verteilt-werden/ (zuletzt abgerufen am 23. Juli 2024).
3 Vgl. Art. 8 i.V.m. Anhang III des Richtlinien-Vorschlags.
4 Siehe Art. 9 des Vorschlags der Kommission.
5 Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Anhang III des Richtlinien-Vorschlags.
6 Art. 2 Abs. 24 Richtlinien-Vorschlag.
7 Vgl. für Medizinprodukte: „Bereitstellung auf dem Markt“ bezeichnet jede entgeltliche oder unentgeltliche Abgabe eines Produkts, mit Ausnahme von Prüfprodukten, zum Vertrieb, zum Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Unionsmarkt im Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit (Art. 2 Abs. 27 EU Medizinprodukteverordnung 2017/745); vgl. für sonstige Produkte in der Produktsicherheitsverordnung (EU) 2023/98, Art. 3 Nr. 6 „Bereitstellung auf dem Markt“ jede entgeltliche oder unentgeltliche Abgabe eines Produkts zum Vertrieb, zum Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Unionsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit.
8 Definition nach Art. 1 Nr. 2b), Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG.
9 Art. 9 Abs. 2 des Richtlinien-Vorschlags.
10 nach dem aktuellen Stand des Entwurfs zu Art. 9 Nr. 1, abrufbar in englischer Fassung unter: https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7108-2024-INIT/en/pdf (zuletzt abgerufen am 23. Juli 2024).
11 Art 9 Abs. 1 S. 2 Ziffer c).
12 Art. 9 Abs. 4 des Richtlinien-Vorschlags.
13 Art. 10 Abs. 1c) des Richtlinien-Vorschlags.
14 Art. 11 des Richtlinien-Vorschlags.
15 Art. 288 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
16 Art. 9 Abs. 1 des Richtlinien-Vorschlags.
17 Art. 8 Abs. 1 des Richtlinien-Vorschlags.
18 Art. 8 Abs. 4 des Richtlinien-Vorschlags.
19 https://www.pharmadeutschland.de/newsroom/news/artikel/kommunalabwasserrichtlinie-einseitige-belastung-der-arzneimittel-hersteller-waere-verfassungswidrig/