20. September 2022
Am 27. Juni 2022 ist die neue Fassung des Deutschen Corporate Governance Kodex in Kraft getreten. Bei dieser Anpassung des Kodex hat die Regierungskommission ein wesentliches Augenmerk auf die Verdeutlichung der Bedeutung von Nachhaltigkeitsfaktoren bei der Unternehmensführung gelegt. Daraus hat sich insbesondere die neue Anforderung ergeben, dass das Kompetenzprofil des Aufsichtsrats nunmehr auch Expertise zu den für das Unternehmen bedeutsamen Nachhaltigkeitsfragen umfassen soll. Weiter soll der Stand der Umsetzung bei der Ausfüllung des Kompetenzprofils durch den Gesamtaufsichtsrat in Form einer Qualifikationsmatrix offengelegt werden.
Gemäß dem neuen Kodex soll der Aufsichtsrat nunmehr auch Sachkunde zu den für das Unternehmen bedeutsamen Nachhaltigkeitsfragen aufweisen. Konkrete Vorgaben zu den relevanten Themen und dem benötigten Maß von Wissen und Erfahrung enthält der Kodex aber nicht.
Die neue Empfehlung in Ziffer C. 1 Satz 3 DCGK schließt nach Systematik und Wortlaut eindeutig an die Empfehlung zum Kompetenzprofil in Ziffer C. 1 Satz 1 DCGK an. Die Aufsichtsräte müssen daher einerseits bestimmen, welche Nachhaltigkeitsbelange die für ihr jeweiliges Unternehmen bedeutsam sind, und andererseits, welche Kompetenzen sie in dieser Hinsicht als komplementär erachten.
Die Empfehlung stellt ausdrücklich auf Expertise in bestimmten und „für das Unternehmen bedeutsamen“ Fragen ab. Eine eher generische Bezeichnung der betreffenden Fragestellungen in dem ohnehin sehr vielschichtigen und dynamischen Feld „Nachhaltigkeit“, „Sustainability“ oder „ESG“ (hier alle als weitgehend synonym verstanden) wird nicht weiterhelfen.
Für das Unternehmen „bedeutsam“ sind Belange, die einen spezifischen Bezug zu dem Unternehmen aufweisen. Hierfür kommen prinzipiell unterschiedliche Anknüpfungspunkte in Betracht. Beispielsweise könnten die Problemstellungen aus dem Geschäftsmodell des Unternehmens abgeleitet werden: So könnte ein verhältnismäßig personalintensives Geschäftsmodell nahelegen, das Themenfeld „S“ von ESG mit entsprechenden Fragen im Zusammenhang mit Mitarbeiterzufriedenheit und Arbeitsbedingungen als bedeutsam zu kennzeichnen. Besonders energieintensive oder emissionsintensive Geschäftstätigkeiten hingegen lassen vermuten, dass die bedeutsamen Fragen eher im Themenfeld „E“ liegen. Als weitere Anknüpfungspunkte könnten auch die internationale Ausrichtung des Unternehmens (Stichwort: Beachtung der Menschenrechte in globalen Lieferketten), seine Absatzmärkte (Stichwort: Zugang zu Produkten des Unternehmens in Entwicklungsländern) oder die Strategie (Stichworte: Transformation, Digitalisierung und Zukunftstechnologien) herangezogen werden.
Dem Wortlaut nach noch offen ist, ob der Aufsichtsrat sämtliche Nachhaltigkeitsfragen zu erfassen hat. Dies ist grundsätzlich zu bejahen, auch wenn es naheliegt, eine Priorisierung der einzelnen Belange, wie sie auch im Rahmen der Strategie verfolgt wird, vorzunehmen. Die entsprechende Priorisierung der Aspekte bewirkt dann eine Auswahl der bedeutsamen Nachhaltigkeitsfragen, die im Rahmen des Kompetenzprofils adressiert werden sollen. Da der Einstufung als „bedeutsam“ eine Abwägung zu Grunde liegt, kommt dem Aufsichtsrat im Ergebnis ein pflichtgemäßes Ermessen zu.
Nachdem die bedeutsamen Nachhaltigkeitsfragen bestimmt wurden, stellt sich die Frage, welche komplementären Kenntnisse und Fähigkeiten im Aufsichtsrat benötigt werden und welche Qualifikationen die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder in dieser Hinsicht mitbringen sollten.
Letztlich soll eine effektive Überwachung und Beratung des Vorstands gewährleistet werden. Der Vorstand wiederum ist seit dieser Neufassung des Kodex besonders dazu angehalten, die ökologischen und sozialen Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit systematisch zu identifizieren und zu bewerten und neben den langfristigen wirtschaftlichen Zielen auch ökologische und soziale Ziele in der Unternehmensstrategie und der Unternehmensplanung zu berücksichtigen (Ziffer A.1 DCGK).
Für die neue Empfehlung in Ziffer C.1 Satz 3 DCGK hat die Kommission im Unterschied zu „Kompetenz“ – wie noch in Satz 1 der Ziffer C.1 – den Terminus „Expertise“ gewählt. Dies deutet unmissverständlich darauf hin, dass Fachkenntnisse und ein spezielles Wissen gefordert sind, und nicht bloß Grundkenntnisse oder Allgemeinwissen. Ein grundlegendes Verständnis der relevanten Fragestellungen kann jedoch ein geeigneter Ausgangspunkt für eine weitere Vertiefung und die Einarbeitung in die unternehmensspezifischen Nachhaltigkeitsaspekte sein. Eine entsprechende Expertise kann somit auch von aktiven Mandatsträgern noch hinzuerworben werden.
Nach Ziffer C.1 Satz 5 DCGK soll der Stand der Umsetzung der Ziele für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats und der Ausfüllung des Kompetenzprofils in der Erklärung zur Unternehmensführung in Form einer Qualifikationsmatrix offengelegt werden. In der Praxis beginnen sich bereits die ersten Fragen um die geeignete Darstellung zu ranken. Auch zur Gestaltung der Qualifikationsmatrix enthält der Kodex keine bestimmten Vorgaben. Zudem ist geeignetes Anschauungsmaterial rar gesät. Eine Untersuchung der öffentlich verfügbaren Quellen (insbesondere Entsprechenserklärungen, Erklärungen zur Unternehmensführung, Berichte des Aufsichtsrats und ähnliche Publikationen börsennotierter Unternehmen) hat gezeigt, dass bislang nur rund ein Dutzend der im DAX, MDAX und SDAX notierten Unternehmen eine namentliche Zuordnung der von ihnen als relevant eingestuften Kompetenzen zu ihren Aufsichtsratsmitgliedern veröffentlicht haben.
Jedenfalls die bislang weit verbreitete allgemeine Aussage: „Der Aufsichtsrat in seiner aktuellen Zusammensetzung erfüllt das Kompetenzprofil.“ wird der neuen Vorgabe nicht gerecht. Weiter wird es voraussichtlich nicht ausreichen, in den gemäß Ziffer C.14 DCGK auf der Internetseite des Unternehmens zu veröffentlichenden Lebensläufen der Aufsichtsratsmitglieder zu vermerken, welche Aufsichtsratsmitglieder ein dem Kompetenzprofil entsprechendes Skill-Set aufweisen. Der Kodex verlangt die Offenlegung unmissverständlich in Gestalt „einer“ Qualifikationsmatrix innerhalb der Erklärung zur Unternehmensführung. Die Angaben in den Lebensläufen verteilen sich in Abhängigkeit von der Anzahl der Mitglieder des Aufsichtsrats auf bis zu 20 einzelne Quellen, lassen für sich genommen keinen Schuss auf den Stand der Umsetzung zu und sind schließlich auch nicht in der Erklärung zur Unternehmensführung enthalten. Unternehmen, die entsprechende Informationen bisher in den Lebensläufen ihrer Aufsichtsratsmitglieder vermerkt haben, steht es selbstverständlich frei, diese Form der Offenlegung als zusätzliche Information beizubehalten.
Unter anderem offen ist, ob die Qualifikationsmatrix auch Angaben zum individuellen Maß der Qualifikation sowie eine Begründung der getroffenen Einschätzung, nebst Angaben zu herangezogenen Nachweisen, enthalten sollte. Zu guter Letzt sollte bedacht werden, wie die mit der Qualifikationsmatrix bezweckte Aussage über die Ausfüllung des Kompetenzprofils durch den Gesamtaufsichtsrat („Stand der Umsetzung“) aus den individuellen Angaben zu den einzelnen Mitgliedern abzuleiten ist.
Mit einer entsprechenden Best Practice wird die Qualifikationsmatrix künftig eines der Instrumente sein, mit denen sich Aktionäre, Investoren, Stimmrechtsberater und weitere interessierte Kreise regelmäßig über die in den Aufsichtsräten vertretene fachliche Kompetenz informieren können. Somit kann – etwa in der Hauptversammlung – die fachliche Eignung der Aufsichtsratsmitglieder auch losgelöst von etwaig anstehenden konkreten Wahlvorschlägen thematisiert werden. Da sich die Empfehlung an sämtliche börsennotierten Unternehmen richtet, ermöglicht die Offenlegung einen Vergleich zwischen verschiedenen Unternehmen beziehungsweise Gremien hinsichtlich der Aufsichtsratskompetenz und lässt gegebenenfalls durch den Vorjahresvergleich deren Entwicklung erkennen. Durch die turnusmäßige Offenlegung des Stands der Umsetzung bei der Ausfüllung des Kompetenzprofils sind Aufsichtsräte gehalten, die in ihren eigenen Reihen benötigten Kompetenzen systematisch zu identifizieren und laufend zu bewerten, wo noch etwaige Verbesserungsfelder bestehen. Die entsprechenden Bemühungen, die Qualifikationen und Kenntnisse ihrer einzelnen Mitglieder auf der Höhe der Zeit zu erhalten und gegebenenfalls noch zu verbessern, führen einmal mehr zu einer weiteren Professionalisierung der Aufsichtsratsarbeit.