17. August 2022
Wo sind die Grenzen journalistischer Arbeit zu ziehen, wenn dadurch Kursentwicklungen beeinflusst werden können? Mit dieser Fragestellung vor Augen hat der EuGH mit dem Urteil vom 15.3.2022 - C-302/20 eine praxisrelevante Entscheidung gefällt. Der Sachverhalt spielte sich zwar noch vor Einführung der Marktmissbrauchsverordnung („MAR“) ab, kann allerdings auf den heute anzuwendenden Art. 7 MAR übertragen werden.
Ausgangspunkt war, dass gerüchteweise ein Unternehmen für die Übernahmen von Wertpapieren eines anderen ein Angebot unterbreitet hätte. Obwohl es sich zu diesem Zeitpunkt nur um ein Gerücht handelte, griff ein bekannter Finanzjournalist dieses Übernahmeangebot in zwei Artikeln auf. Aus unbekannten Gründen gewährte er vor der Veröffentlichung zwei Marktteilnehmern Einblick in seine Beiträge und informierte sie über die bevorstehende Berichterstattung. Pikant ist dabei, dass in beiden Beiträgen der zu zahlende Preis pro Aktie erheblich über dem Börsenkurs des Targets lag, als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Das EuGH hatte sich in diesem konkreten Fall also möglicherweise mit einer Insiderinformation im Zusammenhang mit journalistischer Berichterstattung über kursrelevante Informationen auseinanderzusetzen, deren Wahrheitsgehalt nicht eindeutig festgestellt werden konnte. Da unklar war, ob den beiden Marktteilnehmern das den Artikeln zugrundeliegende Gerücht überhaupt bekannt war, überprüften der EuGH sowie die Vorinstanzen den Sachverhalt nur unter dem Gesichtspunkt einer unrechtmäßigen Offenlegung der bevorstehenden Veröffentlichung der Artikel.
Da es sich bei dem Hinweis des Journalisten auf die bevorstehende Veröffentlichung des besagten Marktgerüchts um eine Information handelte, die bereits in der Öffentlichkeit kursierte und somit bekannt war, hatte der EuGH ausschließlich festzustellen, ob es sich bei den journalistischen Ausführungen zu den Finanzinstrumenten oder dessen Emittenten um präzise und somit kurserhebliche Angaben handelt (7 Abs. 1 lit. a MAR).
Eine Information stellt nur dann eine präzise Insiderinformation dar (Art 7 Abs. 1 lit. a, Abs. 2 MAR), wenn einerseits eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des Ereignisses (Veröffentlichung des Artikels) besteht und andererseits die Informationen spezifisch genug sind (Spezifität), um einen Rückschluss auf die Auswirkungen auf die Kurse von Finanzinstrumenten zuzulassen. Da das erste Kriterium ohne Weiteres erfüllt war, schließlich stand die Veröffentlichung des Artikels kurz bevor, bedarf das zweite Kriterium eines höheren Prüfungsaufwandes.
Der EuGH führte hierzu aus, dass die Spezifität im vorliegenden Fall daran zu bemessen ist, wie präzise die in dem Artikel aufgegriffenen Gerüchte sind. Die dort angeführte genaue Preisangabe pro Aktie im Rahmen des Übernahmeangebotes wird dann auch als hinreichend erachtet, um sie als eine spezifische Insiderinformation zu werten. Des Weiteren bezog der EuGH in seiner Schlussfolgerung mit ein, dass der Artikel von einem bekannten Journalisten stammt und in einer renommierten Zeitung veröffentlicht wurde – beides stärke die Annahme, dass es sich bei den Angaben um weit mehr als ein Gerücht handelt. Eine eindeutige Aussage darüber, ob Gerüchte im Allgemeinen Insiderinformationen sein können, trifft der EuGH hingegen nicht. Mit dieser Klarstellung des Sachverhalts kommt der Fragestellung, ob das Gerücht präzise genug ist, nur inzident eine Bedeutung zu.
Der EuGH führt weiterhin aus, dass eine tatsächliche (spätere) Kursbewegung für die Beurteilung des Vorliegens einer präzisen Information relevant sein kann. Dies gilt allerdings nur, wenn dies nicht das einzige Indiz ist und noch weitere Umstände dazukommen, die die Annahme begründen, dass eine solche Information vorliegt.
In seiner Entscheidung führt der EuGH zudem zum Tatbestand des Art. 21 MAR aus, dass bei der Beurteilung, ob eine Veröffentlichung oder Verbreitung von Informationen eine unrechtmäßige Offenlegung von Insiderinformationen (Art. 10 MAR) oder eine Marktmanipulation (Art. 12 Abs. 1 lit. c MAR) darstelle, die Regeln der Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit sowie Berufs- und Standesregelungen zu beachten sind.
Die Unterrichtung von Quellen vor der Veröffentlichung eines Artikels gehöre danach zu einer journalistischen Tätigkeit und ist nach dem EuGH von der Pressefreiheit gedeckt. Es dürfen nicht nur Quellen unterrichtet werden, sondern, etwa zu Überprüfung der Qualität der eigenen journalistischen Arbeit, auch andere JournalistInnen. Dies ist insoweit unproblematisch, da Art. 21 MAR in lit. a (Erlangung Vorteil bzw. Gewinn) und lit. b (Irreführungsabsicht) die Ausnahme vom Privileg des Art. 21 MAR statuiert und somit eine Anwendung der Art. 10, 12 MAR in diesen Fällen zulässt. Für die praktische Anwendung durch JournalistInnen schaffen diese Ausführungen jedoch keinen konkreten Mehrwert, da ihnen für das Publizieren wohl keine entsprechende Subsumtion der verschiedenen anwendbaren Regelungen auferlegt werden kann.