Autor

Dr. Sara Thienhaus

Senior Associate

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14. August 2020

Vertrauen ist gut, Zeiterfassung ist besser! – Wenn die Judikative die Legislative überholt

Work-Life Balance und flexible Arbeitszeiten gehören zunehmend mehr zu den neuen Präferenzen von Arbeitnehmern, wenn es um die Frage nach dem idealen Arbeitgeber geht. Doch was genau zählt alles zur „Arbeitszeit“ im Sinne des Arbeitszeitgesetzes?

 

Diese zentrale Frage lässt sich nicht ganz einfach beantworten, insbesondere da der Begriff der Arbeitszeit sowohl im vergütungsrechtlichen als auch im arbeitsschutzrechtlichen Sinne verstanden wird. Dabei ist die Diskussion betreffend die Grenzen und Flexibilisierung der Arbeitszeit keineswegs neu, sie hat jedoch kürzlich wieder eine neue Dynamik erfahren. War die Frage im Hinblick auf das Vorliegen von Arbeitszeit schon in der Vergangenheit rechtlich und tatsächlich nicht einfach zu beantworten, erhöhte das Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18–CCOO) diese Komplexität, indem es Anlass und Raum für Spekulationen über die unmittelbaren Konsequenzen des Judikats gibt. Während das Urteil des EuGH in der juristischen Literatur überwiegend als Appell an die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten der EU verstanden wird, die EU-rechtlichen Vorgaben zur Einführung eines Zeiterfassungssystems im Sinne eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen“ Systems für arbeitsschutzrechtliche Zwecke umzusetzen, hat das Arbeitsgericht Emden in seiner Entscheidung vom 20. Februar 2020 (Az. 2 Ca 94/19) als – soweit ersichtlich – erstes Gericht in Umsetzung der zitierten EuGH-Entscheidung eine unmittelbare Verpflichtung zur Einrichtung eines solchen Systems zur Zeiterfassung bejaht und den Gesetzgeber damit überholt. Wie sich die Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden auf die deutsche Rechtslage und somit auf die arbeitsrechtliche Praxis auswirkt, soll im Folgenden erörtert werden.


1. Pflicht zur Arbeitserfassung

a) Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs

In einem Verbandsklageverfahren, das im Ausgangsrechtsstreit unter anderem von der spanischen Gewerkschaft Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) gegen die Deutsche Bank SAE in Spanien geführt wurde, hat der EuGH am 14. Mai 2019 (C-55/18 –CCOO) entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, sämtliche Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten aufzuzeichnen. Dem Rechtsstreit lag eine Regelung des spanischen Arbeitsrechts zugrunde, nach welcher der Arbeitgeber, ähnlich wie bei § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG im deutschen Recht, nur zur Aufzeichnung von Überstunden verpflichtet ist. Umstritten war, ob diese Regelung mit Unionsrecht vereinbart werden kann.

Mit dem Urteil hat der Gerichtshof die aktuelle Entscheidungsserie konsequent fortgesetzt, in der die Grundrechte aus der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) im Horizontalverhältnis, das heißt im Verhältnis zwischen Privaten, zur Ableitung von Rechtspositionen von Beschäftigten herangezogen werden. Nach dieser Grundsatzentscheidung hat der EuGH eine Verpflichtung der Mitgliedsstaaten angenommen, Arbeitgeber künftig zur Aufzeichnung sämtlicher Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter und eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen“ Systems zu verpflichten. Der EuGH beruft sich dabei auf Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG), die das durch Art. 31 Abs. 2 GRCh verbürgte Grundrecht eines jeden Arbeitnehmers auf Begrenzung seiner Höchstarbeitszeit weiter konkretisieren und dahingehend auszulegen sei, dass eine Verpflichtung zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit und nicht nur von einzelnen Überstunden bestehe.

b) Auswirkungen des Urteils des EuGH auf die deutsche Praxis

In Judikatur und juristischer Fachliteratur wird überwiegend vertreten, dass die der Entscheidung zugrundeliegenden Vorgaben der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) in den Mitgliedstaaten bisher keine unmittelbare Wirkung entfaltet. Das Urteil wird überwiegend als Handlungsempfehlung und als ein Appell an den jeweiligen Gesetzgeber innerhalb der Mitgliedstaaten verstanden, da weder die Arbeitszeit-Richtlinie noch die Grundrechte Charta eine unmittelbare Drittwirkung entfalten und sich darüber hinaus aus diesen Rechtsquellen keine konkreten Vorgaben an ein Zeiterfassungssystem entnehmen lassen (vgl. das rechtlich umfassende Rechtsgutachten im Auftrag des BMAS von Professor Dr. Frank Bayreuther).

Vereinzelt wurden allerdings erste Auswirkungen der Entscheidung des EuGH auf die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen von § 138 Abs. 3 ZPO im „Überstundenprozess“ diskutiert. So hat das Bundesarbeitsgericht hervorgehoben, dass die Verwendung von arbeitgeberseitig zur Verfügung gestellten (elektronischen) Zeiterfassungsmöglichkeiten Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast haben kann. Trägt ein Arbeitnehmer vor, an welchen Tagen er wann gearbeitet habe oder sich auf Weisung seines Arbeitgebers zur Arbeit begeben habe, müsse der Arbeitgeber im Bestreitenfall nachweisen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer konkret zugewiesen habe und an welchen Tagen der Arbeitnehmer wann diesen Weisungen gerade nicht nachgekommen sei (sog. sekundäre Darlegungslast). Kann er das nicht, so gelten die vom Arbeitnehmer vorgetragenen Arbeitsstunden als zugestanden (BAG, Urt. v. 26.06.2019 – Az. 5 AZR 452/18).

2. Urteil des Arbeitsgerichts Emden

a) Bejahung einer unmittelbaren Pflicht zur Zeiterfassung des Arbeitgebers

Das Arbeitsgericht Emden ist in seiner Entscheidung vom 20.02.2020 (Az. 2 Ca 94/19) im Rahmen der Darlegungs- und Beweislast noch einen Schritt weitergegangen und hat – soweit ersichtlich – als erstes deutsches Gericht eine unmittelbare Verpflichtung zur Zeiterfassung von sämtlichen Arbeitszeiten bejaht.

Geklagt hatte ein Bauhelfer, der den beklagten Arbeitgeber nach einer mehrwöchigen Tätigkeit unter anderem auf vermeintlich noch ausstehende Vergütung in Anspruch genommen hat. Der klagende Arbeitnehmer behauptete, er habe insgesamt 195,05 Stunden gearbeitet. Vergütet worden seien ihm jedoch nur 183 Stunden, weshalb er den Differenzlohn einklagte. Der Arbeitnehmer hatte hinsichtlich der angeblich geleisteten Stunden eigene handschriftliche Aufzeichnungen angefertigt. Der Arbeitgeber setzte dem entgegen, dass die Erfassung der tatsächlichen täglichen Arbeitszeit mittels eines Bautagebuchs erfolgt sei.

Das Arbeitsgericht Emden sprach dem klagenden Arbeitnehmer den Differenzlohn zu. Es argumentierte, im Einklang mit der vorgenannten Rechtsprechung des BAG, dass im Vergütungsprozess eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast bestehe, wonach der Arbeitnehmer zunächst darzulegen habe, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf arbeitgeberseitige Weisung hierzu bereitgehalten habe. Erst danach obliege es dem Arbeitgeber, sich seinerseits substantiiert zu erklären und darzulegen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen habe und an welchen Tagen der Arbeitnehmer diesen Weisungen ggf. nicht nachgekommen sei.

Nach Auffassung des Arbeitsgericht Emden sei der Arbeitnehmer seiner Darlegungslast hinreichend nachgekommen. Der Vortrag des Arbeitgebers genüge den obig skizierten Anforderungen an die sekundäre Darlegungslast jedoch nicht. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung treffe den Beklagten unmittelbar, da die Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) nach der Rechtsprechung des EuGH im Lichte des Art. 31 Abs. 2 GRCh dahingehend auszulegen seien, als dass sich aus ihnen die Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung entnehmen lasse. Die vorgenannten Vorschriften stellen zudem Konkretisierungen des Grundrechts des Art. 31Abs. 2 GRCh dar. Hierzu sei eine Erfassung der täglichen Arbeitsstunden essentiell, so dass diese Pflicht den Arbeitgeber auch ohne richtlinienkonforme Auslegung des § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG oder entsprechender Umsetzung der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) treffe. Folglich habe der Beklagte nach Auffassung des Arbeitsgerichts Emden gegen Art. 31 Abs. 2 GRCh verstoßen, indem er kein „objektives, verlässliches und zugängliches“ System zur Arbeitszeiterfassung eingerichtet habe, aus denen sich die Erfüllung der (EU-rechtlichen) Verpflichtung ergebe. Die Auswertungen des Bautagebuchs seien nach Ansicht des Arbeitsgerichts Emden nicht auseichend. Es handele sich hierbei schon nicht um ein System zur tatsächlichen Zeiterfassung.

b) Rechtliche Bewertung der Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden

Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden überzeugt nicht. Eine rechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers zur branchenübergreifenden Dokumentation jedweder geleiteten Arbeitszeit ist weiterhin abzulehnen. Zwar ist nicht zu beanstanden, dass sich das Arbeitsgericht Emden an der Entscheidung des EuGH orientiert und einzelne Aspekte betreffend die Beweisverteilung im Vergütungsprozess berücksichtigt hat, jedoch findet die Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) keine Anwendung auf die Vergütung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, da eine unionsrechtliche Zuständigkeit hier nicht gegeben ist. Zudem hatte der EuGH in der Rechtssache „CCOO“ arbeitsschutzrechtliche Aspekte zu beurteilen. Vielmehr hat der EuGH den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten eine Handlungsverpflichtung zur Schaffung eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen“ Systems für die Erfassung der Arbeitszeit aufgegeben. Wie ein solches System jedoch auszusehen hat, lässt sowohl der EuGH als auch das Arbeitsgericht Emden offen. Ebenso kann sich die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für den Arbeitgeber – wie bereits dargelegt – grundsätzlich nicht unmittelbar aus Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) ergeben. 

3. Fazit und Ausblick auf die Praxis 

Auch wenn die Entscheidung des EuGH keine unmittelbare Wirkung innerhalb der Arbeitsparteien in Deutschland entfaltet, besteht für den Arbeitgeber künftig Handlungsbedarf. Zwar ist eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur branchenübergreifenden Dokumentation sämtlicher Arbeitszeiten derzeit (noch) abzulehnen, das BMAS hat aber bereits einen Gesetzesentwurf zur Umsetzung der vom EuGH formulierten Vorgaben angekündigt. Wann mit der Verabschiedung eines neuen Gesetzes betreffend die Regelungen zur Zeiterfassung zu rechnen ist, ist derzeit noch unklar. Der EuGH hat hier keine Fristen gesetzt. Es bleibt also dem nationalen Gesetzgeber überlassen und es ist mit Spannung abzuwarten, zu welchem Zeitpunkt er die entsprechenden Änderungen auf den Weg bringt.

Davon abgesehen sind Arbeitgeber durch die derzeit verstärkte Arbeit ihrer Mitarbeiter im Home-Office oder durch den Bezug von Kurzarbeitergeld (sofern keine Konstellation von „Arbeitszeit Null“ vorliegt) im Hinblick auf etwaige Vergütungsansprüche gut beraten, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter belastbar zu erfassen, indem sie besonderes Augenmerk auf eine stichhaltige Arbeitszeitdokumentation legen. Denn insbesondere bei sich in Kurzarbeit befindlichen Arbeitnehmern, kann die Agentur für Arbeit den Arbeitgeber im Rahmen einer sog. „Abschlussprüfung“ auffordern, Unterlagen und Aufzeichnungen über die Arbeitszeit der Arbeitnehmer vorzulegen, um den tatsächlichen Arbeitsausfall als zwingende Voraussetzung für die Gewährung von Kurzarbeitergeld nachweisen zu können.

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