1. Oktober 2025
Wer heute durch deutsche Städte und Gemeinden geht, merkt schnell: Der klassische „Nahversorger“ von gestern sieht anders aus als die modernen Lebensmittelmärkte von heute. Märkte, die in den 1990er Jahren noch mit 600 bis 800 m2 Verkaufsfläche auskamen, sind längst auf Größenordnungen von 1.000 bis 1.500 m2 angewachsen, teils auch noch deutlich darüber. Das ist nicht Ausdruck von „Wachstumsfantasie“ der Betreiber, sondern schlicht eine Konsequenz aus veränderten Rahmenbedingungen: Barrierefreiheit, erweiterte Sortimente, breitere Gänge, moderne Kassen- und Logistikkonzepte. Allein die zusätzlichen Anforderungen an Bewegungsflächen summieren sich regelmäßig auf mehrere hundert Quadratmeter.
Während in der Bauleitplanung § 11 Abs. 3 BauNVO seit Jahrzehnten die Schwelle von 800 m2 als „großflächig“ markiert, ist diese Grenze in der Realität längst überschritten. Rund 80 % der neu gebauten oder modernisierten Märkte liegen heute oberhalb dieser Marke. Damit werden nahezu alle Projekte automatisch in die komplexen Prüf- und Steuerungsmechanismen von BauNVO und Landesentwicklungsplänen einbezogen – mit dem Ergebnis langwieriger Verfahren und nicht selten rechtlicher Auseinandersetzungen. Für die Gemeinden bedeutet das: Sie verlieren an Steuerungsautonomie, da Genehmigungsentscheidungen regelmäßig auf die Ebene der Bezirksregierungen oder Landesplanungsebene gehoben werden.
Mindestens ebenso wichtig wie die Größe ist die Frage nach der Lage. Traditionell zielte die Regelungslogik des Zentrenschutzes darauf ab, Einzelhandel mit zentrenrelevanten Sortimenten im Kern zu bündeln. Nahversorgung sollte den Innenstädten und Ortszentren vorbehalten bleiben. Die gesellschaftliche Realität sieht anders aus: Nur ein Bruchteil der Bevölkerung lebt in diesen zentralen Lagen. Der überwiegende Teil wohnt in verdichteten Wohnquartieren außerhalb der Zentren – dort, wo heute zwei Drittel aller Nahversorgungsmärkte stehen. Moderne Konzepte sind städtebaulich integriert, aber eben nicht im Zentrum: Sie grenzen direkt an Wohngebiete, sind fußläufig oder per Rad erreichbar und tragen damit entscheidend zur alltagsnahen Versorgung bei.
Diese Entwicklung bringt den bestehenden planungsrechtlichen Rahmen unter Druck. Die Vermutungsregelung des § 11 Abs. 3 BauNVO, die ab 1.200 m2 Geschossfläche und 800 m2 Verkaufsfläche automatisch raumordnungsrelevante Auswirkungen annimmt, passt nicht mehr zu den Marktgrößen. Auch die Landesentwicklungspläne basieren in vielen Ländern auf einer Logik, die eher den Ausnahmefall als die Regel beschreibt. Sondergebiete für Lebensmittelmärkte außerhalb der Zentren sind nur unter engen Bedingungen zulässig. Die Praxis zeigt: Diese Bedingungen sind nicht nur schwer zu prüfen, sondern schaffen auch erhebliche Rechtsunsicherheit und Bürokratie. Gutachten, Nachweise und lange Abstimmungsprozesse bremsen Gemeinden und Investoren gleichermaßen.
Fachlich wie politisch zeichnet sich ein Konsens ab: Wir brauchen einen realistischeren Ordnungsrahmen. Dazu gehört erstens eine Anpassung der Größenkategorien an die heutigen Flächenrealitäten. Märkte mit 1.200 bis 1.500 m2 sollten nicht länger automatisch als „problematisch“ gelten, sondern als marktüblich. Zweitens braucht es eine Neubewertung der Lagekriterien: Zentrenschutz bleibt wichtig, darf aber nicht zur Blockade einer wohnortnahen Versorgung führen. Entscheidend ist die städtebauliche Integration – also die Einbindung in bestehende Quartiere und die gesicherte Erreichbarkeit für die Bevölkerung. Drittens sollte die Planungshoheit der Gemeinden gestärkt werden. Klar definierte, praxistaugliche Kriterien helfen Kommunen, schneller und rechtssicher zu entscheiden, ohne sich in kleinteiligen Ausnahmeprüfungen zu verlieren.
Die Diskussion um die Reform von § 11 Abs. 3 BauNVO und die Anpassung der Landesentwicklungspläne ist kein Selbstzweck. Es geht um die Frage, wie wir eine flächendeckende, zeitgemäße Nahversorgung sichern – gerade auch in Zeiten des demographischen Wandels, steigender Mobilitätskosten und wachsender Anforderungen an Barrierefreiheit. Nahversorger sind Infrastruktur. Sie prägen das Leben vor Ort weit stärker als manche formale Definition von „Großflächigkeit“ vermuten lässt. Wer diese Realität anerkennt, öffnet den Weg für pragmatischere, schnellere und bürgernähere Planungsverfahren. Die Branche, die Kommunen und die Politik stehen hier gemeinsam in der Verantwortung. Lage und Größe sind keine Gegensätze, sondern die zwei Seiten derselben Medaille. Eine moderne Nahversorgung braucht beides – ausreichende Flächen und die richtige städtebauliche Einbindung. Nur so bleibt sie das, was sie im Kern ist: Versorgung der Menschen dort, wo sie leben.