24. Februar 2022

Der „gelbe Schein“ wird zukünftig weitestgehend passé sein. Was bedeutet das für den Arbeitgeber?

  • Briefing

Einleitung

Die Digitalisierung begegnet uns überall – auch in der Arbeitswelt. Wie bereits mit unserem Newsletter „Neuerungen im Arbeitsrecht im Jahr 2022“ vom 13. Januar 2022 angekündigt, wird der digitale Wandel auch für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) – den sog. „gelben Schein“ – ab dem 1. Juli 2022 beginnen. Der „gelbe Schein“ wird dann weitestgehend der Vergangenheit angehören und die elektronische AU-Bescheinigung der Zukunft. Der vom Gesetzgeber angestrebte Bürokratieabbau wirft jedoch Fragen für die arbeitsrechtliche Praxis auf.

Aktuelle Rechtslage

§ 5 Abs. 1 S. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) regelt zum einen die Pflicht des Arbeitnehmers, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen (Mitteilungspflicht). Zum anderen normiert § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG die Pflicht des Arbeitnehmers, bei einer Arbeitsunfähigkeit, die länger als drei Kalendertage dauert, dem Arbeitgeber eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag vorzulegen (Nachweispflicht). Zur Erfüllung dieser gesetzlichen Nachweispflicht erhält der Arbeitnehmer von dem behandelnden Arzt – neben einer Ausfertigung der AU-Bescheinigung für die Krankenkasse und einer Ausfertigung für sich selbst – eine Ausfertigung für den Arbeitgeber ohne die der Arbeitsunfähigkeit zugrundeliegenden Diagnosedaten. Diese Ausfertigung muss der Arbeitnehmer dann selbst dem Arbeitgeber vorlegen.

Gesetzliche Neuregelung ab dem 1. Juli 2022

Mit dem sog. Dritten Bürokratieentlastungsgesetz (BEG III) wird mit Wirkung zum 1. Juli 2022 die elektronische AU-Bescheinigung eingeführt. Hierfür sieht das Bürokratieentlastungsgesetz in § 5 EFZG einen neuen Absatz 1a vor. Dieser lautet wie folgt:

„Absatz 1 Satz 2 bis 5 gilt nicht für Arbeitnehmer, die Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse sind. Diese sind verpflichtet, zu den in Absatz 1 Satz 2 bis 4 genannten Zeitpunkten das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer feststellen und sich eine ärztliche Bescheinigung nach Absatz 1 Satz 2 oder 4 aushändigen zu lassen. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht für Personen, die eine geringfügige Beschäftigung in Privathaushalten ausüben (§ 8a des Vierten Buches Sozialgesetzbuch) und in Fällen der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt, der nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt.“

Der neue Absatz 1a Satz 1 des § 5 EFZG regelt weitestgehend den Fortfall der Nachweispflicht des Arbeitnehmers. Damit entfällt die bislang geltende Pflicht zur Vorlage einer AU-Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG mit Wirkung zum 1. Juli 2022 für gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer. Bestehen bleibt die Nachweispflicht dagegen

  • für privat krankenversicherte Arbeitnehmer,
  • für geringfügig Beschäftigte in Privathaushalten oder
  • wenn die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch Ärzte erfolgt, die nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen.
    Unberührt bleibt die Mitteilungspflicht des Arbeitnehmers gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG. Der Arbeitnehmer bleibt also weiterhin verpflichtet, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen.

Bei gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern gilt ab dem 1. Juli 2022 Folgendes:

  • Pflicht des Arbeitnehmers zu den gesetzlich genannten Zeitpunkten das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer feststellen zu lassen
  • Obliegenheit des Arbeitnehmers, sich von dem behandelnden Arzt eine AU-Bescheinigung in Papierform aushändigen zu lassen als Beweismittel für sog. Störfälle
  • Elektronische Übermittlung der festgestellten Arbeitsunfähigkeitsdaten durch den behandelnden Arzt an die jeweils zuständige Krankenkasse
  • Keine Ausstellung einer für den Arbeitgeber bestimmten AU-Bescheinigung („gelber Schein“) in Papierform durch den behandelnden Arzt
  • Bereitstellung der für den Arbeitgeber relevanten Arbeitsunfähigkeitsdaten durch die jeweilige Krankenkasse in elektronischer Form als Meldung zum Abruf
  • Elektronische Abrufung der für den Arbeitgeber relevanten Arbeitsunfähigkeitsdaten durch diesen selbst unmittelbar bei der jeweiligen Krankenkasse

Praxishinweis

Während der Arbeitgeber nach der aktuellen Rechtslage die AU-Bescheinigung von dem Arbeitnehmer lediglich passiv entgegennehmen muss, wird er ab dem 1. Juli 2022 bei gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern aktiv werden müssen, indem er die für ihn relevanten Arbeitsunfähigkeitsdaten bei der jeweiligen Krankenkasse elektronisch abruft. 

Da der neue Absatz 1a Satz 1 des § 5 EFZG mit Wirkung zum 1. Juli 2022 gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer von der bislang geltenden gesetzlichen Nachweispflicht befreit, wohingegen die Mitteilungspflicht unberührt bleibt, wird die – in der Praxis von einigen Arbeitnehmern vernachlässigte – Mitteilungspflicht eine neue und zentrale Bedeutung gewinnen. Denn erst wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber mitteilt, dass er arbeitsunfähig erkrankt ist und das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit feststellen lassen hat, wird der Arbeitgeber typsicherweise Anlass dazu haben, die für ihn relevanten Arbeitsunfähigkeitsdaten bei der jeweiligen Krankenkasse elektronisch abzurufen.

In den Musterarbeitsverträgen dürfte § 5 EFZG in seiner gegenwärtig noch gültigen Fassung abgebildet sein, wobei typischerweise die gesetzlich geregelten Mitteilungs- und Nachweispflichten deklaratorisch wiedergegeben werden. Bei gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern müsste die arbeitsvertragliche Musterformulierung im Hinblick auf die Nachweispflicht entsprechend der gesetzlichen Neuregelung des § 5 EFZG angepasst werden.

Da der Arbeitnehmer weiterhin eine AU-Bescheinigung in Papierform durch den behandelnden Arzt für sich erhält, stellt sich die Frage, ob der Arbeitnehmer arbeitsvertraglich dazu verpflichtet werden kann, diese AU-Bescheinigung dem Arbeitgeber vorzulegen. Dies erscheint zweifelhaft. Einer solchen arbeitsvertraglichen Regelung dürfte § 12 EFZG entgegenstehen, wonach von den Vorschriften des EFZG nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden kann.

Spannend bleibt die Frage, wie sich die gesetzliche Neuregelung zu dem in § 7 EFZG normierten Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitgebers verhält. Danach ist der Arbeitgeber berechtigt, die Fortzahlung des Arbeitsentgelts zu verweigern, solange der Arbeitnehmer die von ihm nach § 5 Abs. 1 EFZG vorzulegende ärztliche Bescheinigung nicht vorlegt, vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG.

Nicht geregelt ist die Frage, ob der Arbeitgeber berechtigt ist, die Fortzahlung des Arbeitsentgelts zu verweigern, wenn der gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit nicht feststellen lässt. Dieser Fall dürfte genauso zu beurteilen sein, wie wenn der Arbeitnehmer der Pflicht zur Vorlage einer AU-Bescheinigung nicht nachkommt.  

Ungeklärt ist auch, ob und in welchem Umfang das Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitgebers bestehen bleibt, wenn es zu sog. Störfällen kommt, wie etwa einer fehlgeschlagenen Übermittlung im elektronischen Verfahren. In der Praxis wird der Arbeitnehmer wohl die für ihn bestimmte AU-Bescheinigung in Papierform auf entsprechende Anfrage des Arbeitgebers vorlegen.

Fraglich ist jedoch, was gilt, wenn der Arbeitnehmer die für ihn bestimmte AU-Bescheinigung in Papierform nicht vorlegen will, sie verloren hat oder sie sich von dem behandelnden Arzt gar nicht erst aushändigen lassen hat. In solchen Fällen könnte der Arbeitgeber die Fortzahlung des Arbeitsentgelts verweigern. Sofern der Arbeitnehmer dann auf Entgeltfortzahlung klagt, müsste er das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren Dauer darlegen und beweisen. Dieser Darlegungs- und Beweislast würde der Arbeitnehmer in der Regel durch Vorlage der für ihn bestimmten AU-Bescheinigung in Papierform nachkommen. Er könnte aber bspw. auch den behandelnden Arzt als Zeugen benennen, wobei er ihn zumindest teilweise von seiner ärztlichen Schweigepflicht entbinden müsste. 

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