16. September 2025
Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung wird einfacher: Der Europäische Gerichtshof hat klargestellt, dass bei Telemedizin das Recht des Herkunftslandes des Leistungserbringer gilt – und nicht das des Patienten. Für Anbieter von digitalen Gesundheitsleistungen bedeutet das mehr Rechtssicherheit und neue Chancen für innovative Plattformmodelle. Gleichzeitig bleibt es spannend: Nationale Beschränkungen – etwa in Deutschland – setzen weiterhin enge Grenzen. Wer grenzüberschreitend denkt, kann von den neuen Möglichkeiten profitieren.
EuGH – C-115/24 – 11. September 2025
Eine in Österreich niedergelassene Zahnärztin kooperierte im Rahmen von Alignertherapien (Zahnschienen) mit einem in Deutschland ansässigen Anbieter.
Die Österreichische Zahnärztekammer klagte. Aus ihrer Sicht dürfen in Österreich niedergelassene Zahnärzte nicht mit ausländischen Gesellschaften in der Patientenbehandlung kooperieren.
Die hierdurch aufgeworfenen Rechtsfragen treffen ins Herz der in jüngerer Vergangenheit immer häufiger auftretenden Rechtsfrage zur grenzüberschreitenden Telemedizin – nämlich der Frage, welches Recht für den Erbringer der gilt: das des Patienten, in dessen Land die Leistung „empfangen“ wird („Bestimmungslandsprinzip“), oder das des Staates des Dienstleisters, von dem aus die Leistung erbracht wird („Herkunftslandsprinzip“).
Der EuGH musste in diesem Zusammenhang vier zentrale Fragen klären, die wir hier verkürzt darstellen wollen:
Der EuGH hatte sich vordergründig mit der Frage zu befassen, was Telemedizin im Sinne von Art. 3 Buchst. d und e der Patientenmobilitätsrichtlinie bedeutet. Es ging dabei vor allem um die Frage, ob auch Behandlungen erfasst sind, die neben digitalen Leistungen zugleich körperliche Untersuchungen beinhalten.
Um diese Frage zu beantworten, hat der EuGH Art. 3 Buchst. d und e der Patientenmobilitätsrichtlinie ausgewertet. Sie geben – sinngemäß – die folgenden Definitionen vor:
Das Österreichische Zahnärztekammer wollte wissen, ob unter „Gesundheitsversorgung im Bereich der Telemedizin“ nur solche Gesundheitsdienstleistungen fallen, die ein Anbieter in einem anderen Mitgliedstaat als dem Versicherungsmitgliedstaat des Patienten ausschließlich aus der Ferne und nur mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien erbringt – also ohne gleichzeitige physische Anwesenheit von Patient und Anbieter am selben Ort. Oder ob auch gemischte Modelle erfasst sind, bei denen neben den telemedizinisch erbrachten Leistungen auch Gesundheitsleistungen hinzukommen, die im Versicherungsmitgliedstaat des Patienten in physischer Anwesenheit des Patienten erbracht werden.
Für den Fall, dass auch solche Mischformen erfasst wären, stellte sich zudem die Frage,, ob die telemedizinisch erbrachten Leistungen dabei den überwiegenden Teil ausmachen müssen – und nach welchen Kriterien dieses „Überwiegen“ zu beurteilen wäre.
Der EuGH stellt klar: Entscheidend für den unionsrechtlichen Begriff der Telemedizin ist allein, dass eine Gesundheitsdienstleistung ausschließlich aus der Ferne unter Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien erbracht wird. Eine gleichzeitige physische Anwesenheit von Patient und Dienstleister schließt damit die Einordnung der Gesamtbehandlung als Telemedizin aus – unabhängig von der Komplexität der Behandlung.
Der EuGH hatte außerdem zu klären, ob die einschlägigen Regelungen zugleich dahingehend auszulegen sind, dass sie
Der EuGH entschied: Das Herkunftslandsprinzip greift umfassend. Zur Begründung zog er die Erwägungsgründe der Patientenmobilitätsrichtlinie und das darin erkennbare Ziel der Erleichterung des Zugangs zu einer sicheren, hochwertigen, grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, heran. Dieses Ziel könne nur erreicht werden könnten, wenn die Regelungen nicht nur Fragen der Erstattung von Kosten umfassten. Dies ergebe sich überdies durch die E-Commerce-Richtlinie, die ebenfalls das Herkunftslandsprinzip für Dienste der Informationsgesellschaft – und damit für telemedizinische Gesundheitsdienstleistungen – statuiert.
Zugleich betont der EuGH, dass die nationalen Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten für die Festlegung des Umfangs der durch die Sozialversicherung gedeckten Leistungen sowie die Organisation und Bereitstellung von medizinischer Versorgung uneingeschränkt zu achten sei.
Sodann hat der EuGH die Frage der Anwendung der Berufsqualifikationsrichtlinie auf Sachverhalte grenzüberschreitender Telemedizin geklärt.
Begibt sich ein Dienstleister (dauerhaft) zur Berufsausübung in einen anderen Mitgliedsstaat, unterliegt er nach den Regelungen der Berufsqualifikationsrichtlinie den berufsständischen, gesetzlichen und verwaltungsrechtlichen Berufsregeln, die in dem Aufnahmemitgliedsstaat gelten – einschließlich u.a. Disziplinarbestimmungen, Regelungen für schwerwiegende berufliche Fehler in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Schutz und der Sicherheit der Verbraucher.
Der EuGH stellt stringent klar, dass Telemedizin zwingend voraussetzt, dass die Gesundheitsdienstleistung ohne einen Ortswechsel grenzüberschreitend erbracht wird. Begibt sich der Patient in den Mitgliedsstaat des Gesundheitsdienstleisters, oder begibt sich der Gesundheitsdienstleister in den Mitgliedsstaat des Patienten, so liegt aus Sicht des EuGH keine Telemedizin im Sinne der Richtlinie vor. Der EuGH betont, dass die Gesundheitsdienstleistung „ihren Ort wechselt“ – und zwar aufgrund ihres grenzüberschreitenden Charakters. Die Berufsqualifikationslinie ist daher nicht anwendbar auf Dienstleister, die Gesundheitsdienstleistungen erbringen, ohne selbst physisch den Ort zu wechseln
Abermals stellt der EuGH konsequent fest, dass nationale (österreichische) Vorschriften auf den im anderen Mitgliedsstaat tätigen Dienstleister, der sich für seine Leistungserbringung nicht physisch in den Mitgliedsstaat begibt, nicht anwendbar sind. Besonderheiten, die sich daraus ergeben, dass hier z.T. Leistungen persönlich am Patienten vor Ort erbracht wurden, werden hier nicht näher beleuchtet, da dies gerade keine Telemedizin darstellt.
Das Herkunftslandsprinzip wurde deutlich gestärkt – ein echter Gewinn an Rechtssicherheit für den gesamten Telemedizin- und Digital-Health-Markt. Für in Deutschland ansässige Anbieter ändert sich hingegen nicht viel: Die innerhalb Deutschlands geltenden engen Spielräume für die Erbringung telemedizinischer Leistungen bleiben im Sinne der zulässigen Inländerdiskriminierung wirksam. Länder mit weniger strengen Vorgaben als etwa Deutschland könnten sich dadurch weiterhin und verstärkt als attraktive Standorte für den Aufbau und die Expansion telemedizinischer Plattformmodelle etablieren.
Grundsätzlich für alle Angehörigen der Gesundheitsberufe. Das heißt nicht nur für Zahnärzte, sondern für alle Ärzte, Psychotherapeuten, Apotheker und sonstige reglementierte Berufe. Ein reglementierter Beruf in diesem Sinne ist ein Beruf, bei dem der Zugang oder die Ausübung an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist. In der Regel bedeutet das: Man darf diesen Beruf nur ausüben oder eine geschützte Berufsbezeichnung führen, wenn man über eine vorgeschriebene Ausbildung oder Qualifikation verfügt. Das umfasst etwa auch Physiotherapeuten, Logopäden, MTA, Notfallsanitäter oder Pflegefachkräfte.
Im Anschluss an das aktuelle Urteil des EuGH bleibt die Zukunft der grenzüberschreitenden Telemedizin weiterhin spannend und dynamisch. Während das Herkunftslandsprinzip für mehr Rechtssicherheit sorgt, ist offen, wie der Deutschlands Gesetzgeber und andere EU-Mitgliedstaaten auf die neuen Spielräume reagieren werden. Die Diskussion um nationale Beschränkungen, etwa bei zulässigen Versorgungsmodellen und Erstattungsfragen, dürfte sich weiter zuspitzen — ebenso wie die Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Regulierungsstandorten innerhalb Europas.
Wer die aktuellen Entwicklungen frühzeitig berücksichtigt, kann nicht nur vorn dabei sein, sondern aktiv die Weiterentwicklung der digitalen Gesundheitsversorgung mitgestalten. Es lohnt sich, das eigene Geschäftsmodell sorgfältig zu prüfen: Welche Chancen bleiben bislang ungenutzt? Welche neuen Spielräume lassen sich strategisch erschließen? Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Sprechen Sie uns gerne an.
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