Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in einem Urteil vom 07.03.2024 (Az. I ZR 83/23) wieder einmal mit der Frage rechtsmissbräuchlicher Abmahnungen befasst. Das Gericht hob dabei das vorangegangene Urteil des OLG Hamm auf. Das Berufungsgericht hatte das Vorgehen des klagenden Verbands als rechtmissbräuchlich eingestuft. Der BGH bemängelte, dass nicht alle relevanten Umstände in die Beurteilung des Rechtsmissbrauchs einbezogen worden seien. Diese umfassende Gesamtwürdigung muss das OLG nach der Zurückverweisung des Falls nun nachholen.
Worum ging es?
In dem zugrundeliegenden Fall verklagt ein eingetragener Interessenverband von Online-Unternehmen einen Online-Händler auf Zahlung einer Vertragsstrafe wegen Verstoßes gegen eine vom Händler abgegebene Unterlassungserklärung. Der Händler verteidigt sich damit, dass die der Unterlassungserklärung vorangegangene Abmahnung des Verbands rechtsmissbräuchlich gewesen sei.
Die Klage war in erster und zweiter Instanz erfolglos geblieben. Sowohl das Landgericht Essen als auch das OLG Hamm hatten angenommen, dass der Geltendmachung der Vertragsstrafe der Einwand des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) entgegenstünde. Den Rechtsmissbrauch folgerte das OLG aus der Tatsache, dass der Verband eine große Zahl an Abmahnungen (bis zu 6.000 pro Jahr) ausgesprochen habe, ohne die Fälle bei Nichtabgabe von Unterlassungserklärungen gerichtlich weiterverfolgt zu haben. Das lasse nur den Schluss zu, dass es bei den Abmahnungen des Verbands in erster Linie darum gegangen sei, Ansprüche auf Abmahnkosten oder Vertragsstrafeansprüche zu generieren.
BGH: Einbeziehung aller relevanten Umstände für Rechtsmissbrauch
Der BGH bestätigt in seiner Entscheidung zwar die grundsätzlichen Erwägungen der Vorinstanzen zur Rechtsmissbräuchlichkeit. Er hob das Berufungsurteil aber auf, weil das OLG nicht alle für und gegen einen Rechtsmissbrauch sprechenden Umstände berücksichtigt habe.
Grundsätzlich sei es richtig, dass die Zahlung von Vertragsstrafen mit dem Einwand des Rechtsmissbrauchs verweigert werden könne, wenn die zugrundliegende Abmahnung rechtsmissbräuchlich gewesen sei. Für die Beurteilung der Rechtsmissbräuchlichkeit einer Abmahnung sei eine umfassende Gesamtwürdigung des Verhaltens des Abmahnenden vor, bei oder nach der Abmahnung erforderlich. Komme diese Gesamtwürdigung zum Ergebnis, dass die Abmahnung aus überwiegend sachfremden Motiven erfolgte, sei ein Rechtsmissbrauch anzunehmen. Umstände, die nach der gesetzlichen Regelung im Rahmen von § 8c UWG einen Rechtsmissbrauch begründen, können auch bei der allgemeinen Prüfung eines Rechtsmissbrauchs nach § 242 BGB herangezogen werden.
Ein Indiz für Rechtsmissbrauch sei es, so der BGH, wenn bei einer zweifelhaften Rechtslage in großer Zahl Abmahnungen ausgesprochen würden, ohne bei Ausbleiben einer Unterlassungserklärung eine gerichtliche Klärung herbeizuführen. Vorliegend lag der Anteil der vom Verband nicht weiterverfolgten Fälle wiederholt bei über 80% - dies genüge nach dem BGH ohne Hinzutreten weiterer Indizien jedoch nicht für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs. Zu berücksichtigen seien nämlich außerdem die Gründe, warum abgemahnte Fälle nicht weiterverfolgt wurden. Erledigten sich Fälle auf andere Weise als durch Abgabe einer Unterlassungserklärung - etwa durch dauerhafte Einstellung der Handlung, Inhaber- oder Sortimentswechsel, Geschäftsaufgabe oder Ähnliches -, oder verzichte der Verband „aus sozialen Gründen“ auf eine Weiterverfolgung, so könne dies gegen einen Rechtsmissbrauch sprechen. Darauf, dass aus rechtlicher Sicht in derartigen Konstellationen eine Wiederholungsgefahr und damit ein Unterlassungsanspruch fortbestünde, komme es für die Prüfung der Rechtmissbräuchlichkeit nicht an.
Eine fehlende Weiterverfolgung könne auch dadurch gerechtfertigt sein, dass der Verband ausgewählte „Musterverfahren“ auswählt, um strittige Fragen zunächst höchstrichterlich klären zu lassen. Dies gelte zumindest dann, wenn nach Klärung der Rechtslage auch die vorerst zurückgestellten Fälle vor Gericht gebracht würden. Auch das Stellen von Anträgen auf die Verhängung von Ordnungsmitteln zugunsten des Staates durch den Verband kann ein Indiz gegen rechtmissbräuchliches Handeln sein, allerdings nur dann, wenn dies in erheblichem Umfang erfolge.
Der BGH verweist den Fall zurück an das OLG und weist vorsorglich darauf hin, dass auch solche weiteren Umstände zu berücksichtigen seien, die ggf. für einen Rechtsmissbrauch sprechen: So seien die vom Verband vorgefertigten Unterlassungserklärungen ggf. zu weitgehend formuliert gewesen. Auch könne es eine Rolle spielen, wenn ein Verband gegen Nichtmitglieder systematisch anders, sprich härter, vorgehe als gegen seine Verbandsmitglieder. Schließlich sei es ein Indiz für die Rechtsmissbräuchlichkeit einer Abmahnung, wenn darin der falsche Eindruck erweckt würde, die Unterlassungserklärung und die Kostenerstattung gehörten zusammen, und ein Gerichtsverfahren nur durch Unterzeichnung der vorgefertigten Unterlassungserklärung vermieden werden könne.
Praxishinweis: Abmahnung genau prüfen!
Rechtsmissbräuchliche Abmahnungen beschäftigen die Gerichte, insbesondere im Bereich des Lauterkeitsrechts, immer wieder. In § 8c des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) sind mittlerweile die wichtigsten Indizien für die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Abmahnung genannt. Diese Indizien können auch für die Beurteilung des Rechtmissbrauchs in anderen Rechtsgebieten (z.B. im Marken- oder Urheberrecht) oder – wie vorliegend – im Zusammenhang mit Vertragsstrafeansprüchen herangezogen werden.
Die Entscheidung des BGH bestätigt, dass ein Rechtsmissbrauch in der Regel nicht allein anhand eines Umstands festgestellt werden kann. Vielmehr müssen die Gerichte sämtliche für und gegen den Rechtmissbrauch sprechenden Indizien beachten und gegeneinander abwägen. Führt diese umfassende Gesamtabwägung zum Ergebnis, dass es dem Abmahnenden nicht in erster Linie um das Abstellen einer Rechtsverletzung geht, sondern sachfremde Motive überwiegen, liegt ein Rechtmissbrauch vor.
Der Ausgang der konkreten Falls erscheint zumindest offen. Der BGH lässt durchblicken, dass das Urteil des OLG wegen der fehlenden umfassenden Abwägung zwar aufzuheben war, es aber durchaus Gründe zu geben scheint, mit denen ein rechtsmissbräuchliches Abmahnverhalten des Verbands bei Einbeziehung aller relevanten Umstände angenommen werden kann.
Die Feststellung des Rechtsmissbrauchs hat nicht zu unterschätzende Konsequenzen: Sie führt z.B. dazu, dass der Abmahnende lauterkeitsrechtliche Ansprüche nicht mehr gerichtlich geltend machen oder der Schuldner die Zahlung von Vertragsstrafen verweigern kann. Von Abmahnungen betroffene Unternehmen sind gut beraten, wenn Sie bei Vorliegen von Anhaltspunkten für einen Rechtsmissbrauch (z.B. große Zahl an Abmahnungen, hohe Kostenerstattungsforderungen, Aufspaltung von eigentlich zusammenhängenden Sachverhalten in mehrere Abmahnungen) die Abmahnung einer gründlichen rechtlichen Prüfung unterziehen.