6. Februar 2020

Urlaubsverfall bei Krankheit

EuGH differenziert zwischen dem unionsrechtlich gewährleisteten Mindeststandard und darüber hinaus gewährten Urlaubsansprüchen

I. Einleitung

Nicht nur national gab es in jüngerer Vergangenheit neue Entwicklungen in Bezug auf die Thematik Krankheit von Arbeitnehmern (siehe hierzu den Newsletter Arbeitsrecht vom 23.01.2020). Kurz vor dem Jahreswechsel hat sich auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einer Fragestellung im Zusammenhang mit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit von Arbeitnehmern beschäftigt. Auf zwei das Urlaubsrecht betreffende Vorabentscheidungsersuche hin hat der EuGH mit Urteil vom 19. November 2019 (Az. C-609/17 und C-610/17) entschieden, dass eine Gutschreibung von Krankheitstagen während des Urlaubs auf den gesetzlichen Mindesturlaub beschränkt werden kann.

II. Sachverhalt(e)

Beiden Vorabentscheidungsersuchen liegen Rechtsstreitigkeiten zu Grunde, in denen es um Arbeitnehmer geht, die während (eines Teils) ihres bewilligten Jahresurlaubs arbeitsunfähig erkrankt waren. Der jeweilige Arbeitgeber weigerte sich unter Berufung auf nationale gesetzliche Regelungen sowie die Bestimmungen des im jeweiligen Fall anwendbaren Tarifvertrages, auch die übergesetzlichen Urlaubstage aufgrund der Arbeitsunfähigkeit dem Urlaubskonto wieder gutzuschreiben. In beiden Fällen erhob daraufhin eine Arbeitnehmerorganisation gegenüber einer Arbeitgeberorganisation – jeweils als Partei des einschlägigen Tarifvertrages, der über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehenden Jahresurlaub gewährt – vor einem finnischen Arbeitsgericht (Työtuomioistuin) Feststellungsklage. Im Rechtsstreit zwischen dem Terveysja sosiaalialan neuvottelujärjestö (TSN) ry (im Folgenden: TSN) und dem Hyvinvointialan liitto ry begehrt TSN die Feststellung, dass die betroffene Arbeitnehmerin wegen ihrer Arbeitsunfähigkeit einen Anspruch darauf habe, dass ihr der gesamte für den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit gewährte Urlaub (also auch der übergesetzliche/tarifvertragliche Mehrurlaub) wieder gutgeschrieben werde. Begründet wurde die Klage seitens TSN damit, dass § 25 Abs. 1 des finnischen Jahresurlaubsgesetzes, der über den einschlägigen Tarifvertrag für die Gesundheitsbranche anwendbar sei, gegen Art. 7 Abs.1 der RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (im Folgenden: Arbeitszeitrichtlinie) verstoße. Im Rechtsstreit zwischen dem Autoja Kuljetusalan Työntekijäliitto AKT ry (im Folgenden: AKT) und dem Satamaoperaattorit ry begehrte AKT unmittelbar die Feststellung, dass die Regelungen des Tarifvertrages für die Branche Seehafenumschlag nicht zur Anwendung von § 25 Abs. 2 des finnischen Jahresurlaubsgesetzes führen würden, da die nationale Norm nicht mit Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. II der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Grundrechtecharta) vereinbar sei.

Die jeweils angerufenen finnischen Arbeitsgerichte haben das bei ihnen anhängige Verfahren ausgesetzt und dem EuGH die Frage nach der Auslegung von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie (Frage 1) und von Art. 31 II der Grundrechtecharta (Frage 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Im Verfahren C-610/17 wurde überdies auch eine Vorabentscheidung in Bezug auf das Bestehen einer direkten horizontalen Wirkung des Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta (Frage 3) begehrt.

III. Entscheidungsgründe

Zu Frage 1 hat der EuGH entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie nationalen Rechtsvorschriften und Tarifverträgen nicht entgegensteht, die für den Fall der Krankheit während des Urlaubs eine Gutschrift der über die unionsrechtliche Mindestdauer von vier Wochen hinausgehenden Urlaubtage ausschließen.

Nach ständiger Rechtsprechung stehe die Arbeitszeitrichtlinie innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegen, nach denen ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von mehr als den in Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie vorgesehenen vier Wochen bestehe. Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die über das unionsrechtlich vorgesehene Mindestmaß hinausgingen, seien durch das nationale Recht zu regeln. Es sei daher Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob sie den Arbeitnehmern einen über die in Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie garantierte Mindestdauer von vier Wochen hinausgehenden Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zuerkennen und wie sie diesen ggf. ausgestalten wollen. Im Falle der Gewährung zusätzlichen bezahlten Jahresurlaubs könnten die Mitgliedstaaten die Bedingungen für die Gewährung und das Erlöschen solch zusätzlicher Urlaubstage festlegen, ohne dass sie insoweit an die Schutzregeln der Arbeitszeitrichtlinie gebunden seien. Im Ergebnis sei lediglich sicherzustellen, dass der bezahlte Jahresurlaub, den der Arbeitnehmer tatsächlich habe, während er nicht krankheitsbedingt arbeitsunfähig sei, die Mindestdauer von vier Wochen nicht unterschreite.

Zu Frage 3 hat der EuGH indes klargestellt, dass Art. 31 Abs. 2 i.V.m. Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta auf Konstellationen wie die hiesige keine direkte Anwendung findet.

Der bloße Umstand, dass nationale Maßnahmen zu einem Bereich gehörten, in dem die Union (auch) über Zuständigkeiten verfüge, führe nicht dazu, dass diese in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen und somit die Grundrechtecharta anwendbar werde. Unter Verweis auf die geteilte Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik (Art. 4 Abs. 2 lit. b), Art. 2 Abs. 2, Art. 153 Abs. 1 AEUV) stellte der EuGH zudem klar, dass der Umstand, dass Mitgliedstaaten über die unionsrechtlich vorgeschriebene Mindestdauer von vier Wochen hinausgehende Urlaubsansprüche gewährten und (allein) bzgl. dieses Mehrurlaubs eigene Regelungen träfen, nicht die Gefahr berge, dass der Mindestschutz des Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie berührt oder eingeschränkt werde. Im Ergebnis würden daher die Regelungen bzgl. eines über die unionsrechtliche Mindestdauer hinausgehenden Urlaubsanspruchs in die den Mitgliedstaaten verbleibende Zuständigkeit fallen. Sie seien weder durch die Arbeitszeitrichtlinie geregelt, noch fielen sie in deren Anwendungsbereich. Für den gegebenen Fall, dass unionsrechtliche Vorschriften einen bestimmten Bereich nicht regelten und den Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt keine bestimmten Verpflichtungen auferlegt seien, falle die nationale Regelung dieses Aspekts nicht in den Anwendungsbereich der Grundrechtscharta, sodass deren Bestimmungen für die Beurteilung des betreffenden Sachverhalts auch nicht herangezogen werden könnten.

Frage 2 (über die inhaltliche Vereinbarkeit der nationalen gesetzlichen und tarifvertraglichen Regelungen mit Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtscharta) hatte der EuGH damit im Ergebnis nicht mehr zu beantworten.

IV. Fazit und Praxishinweis

Die Entscheidung des EuGH steht im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung zu Fragen des Urlaubsrechts und ist insgesamt zu begrüßen.

Im Rahmen des deutschen Urlaubsrechts ist die Entscheidung in erster Linie im Zusammenhang mit Tarifverträgen bedeutend. Die Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes (im Folgenden: BUrlG) gewähren selbst keinen über die unionsrechtlich vorgegebene Mindestdauer von vier Wochen hinausgehenden Urlaubsanspruch und § 9 BUrlG bestimmt im Einklang mit dem Unionsrecht, dass im Falle der Erkrankung eines Arbeitnehmers während des Urlaubs, die nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet werden. Häufig wird aber in Deutschland – wie in den der Entscheidung des EuGH zugrundliegenden Fällen – tarifvertraglicher Mehrurlaub gewährt. Obwohl § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG die Tarifdisponibilität u.a. des § 9 BUrlG kodifiziert, darf die Befugnis der Tarifparteien zur Schaffung abweichender Normen nicht dazu führen, dass mittelbar in das unionsrechtlich garantierte und daher unantastbare Recht der Arbeitnehmer auf vier Wochen bezahlten Jahresurlaub eingegriffen wird, welches in § 3 Abs. 1 BUrlG niedergelegt ist. Im Ergebnis ist daher bei jeder verschlechternden Tarifnorm zu prüfen, ob und wie der unabdingbare Anspruche auf vier Wochen bezahlten Jahresurlaub betroffen ist. Um die unionsrechtskonforme Ausgestaltung einer Tarifnorm sicherzustellen, ist es vor allem wichtig, dass diese ausdrücklich zwischen dem unionsrechtlich garantierten und auch gesetzlich geregelten Mindesturlaub von vier Wochen und dem darüberhinausgehenden Mehrurlaub differenzieren.

Der EuGH macht in seiner Entscheidung eine auch für sonstige nationale Regelungen im Urlaubsrecht geltende allgemeine Aussage, die dogmatisch überzeugt: Legt das Unionsrecht in Bezug auf bezahlten Jahresurlaub einen Mindestumfang für das zu gewährende Schutzniveau fest, scheidet eine Unterschreitung des diesbezüglich unionsrechtlich gewährten Mindestschutzniveaus durch nationale Regelungen, die sich allein auf einen über dieses Mindestmaß hinausgehenden Mehrurlaub beziehen, schon rein denknotwendig aus.

Die Ausführungen des EuGH sind auch generell, also über das Urlaubsrecht hinaus, verallgemeinerungsfähig. Die dogmatischen Ausführungen gelten gleichermaßen auch für alle anderen Aspekte des nationalen Rechts, bzgl. derer unionsrechtliche Regelungen ein gewisses Mindestschutzniveau sicherstellen sollen. Es handelt sich so gesehen um eine allgemeine Klarstellung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen unionsrechtlichen Regelungen und nationalen Gesetzen der Mitgliedsstaaten und damit letztlich um einen allgemeinen Wegweiser für den Gesetzgeber und die Tarifvertragsparteien.

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