28. März 2025
Darf Gleiches unterschiedlich behandelt werden? Ja – solange es nicht willkürlich geschieht! Dies hat im Wesentlichen jüngst das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21 und 1 BvR 1422/23) entschieden und in diesem Zuge wertvolle Grundaussagen zur Reichweite der Tarifautonomie getroffen.
Viele Tarifverträge sehen Zuschläge für Nachtarbeit vor. Häufig wollen die Tarifparteien dabei nach der Art der geleisteten Nachtarbeit differenzieren – so war es auch in den beiden Fällen, über die das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte. Karlsruhe gab hier zwei Arbeitgeberinnen Recht, die sich jeweils gegen eine Verurteilung durch das Bundesarbeitsgericht zur Wehr gesetzt hatten. Ausgangspunkt beider Verfahren war eine in der tariflichen Praxis üblichen Differenzierung zwischen (regelmäßiger) Nachtschichtarbeit (Zuschlag von 25 %) und unregelmäßig stattfindender Nachtarbeit (Zuschlag von 50 %). Vor den Arbeitsgerichten hatten mehrere Arbeitnehmer, die in der Nachtschicht eingesetzt waren, auf die Zahlung der höheren Zuschläge geklagt.
Das Bundesarbeitsgericht, das solche Tarifklauseln jahrzehntelang unbeanstandet gelassen hatte, sah in der unterschiedlich hohen „Bepreisung“ der beiden Arten von Nachtarbeit eine gleichheitswidrige Ungleichbehandlung. Es sprach daraufhin den klagenden Arbeitnehmern den höheren, für unregelmäßige Nachtarbeit geltenden, Zuschlag zu (sog. Anpassung nach oben).
Das Bundesverfassungsgericht hat der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in mehrfacher Hinsicht widersprochen und dabei mehrere für die tarifliche Praxis wertvolle Leitlinien eingezogen:
Insgesamt stärkt das BVerfG mit seiner Entscheidung die Tarifautonomie gleich in doppelter Weise: Zum einen stellt es für die Arbeitsgerichte hohe Hürden auf, in bestehende Tarifverträge eingreifen zu können. Eine bloße Ungleichbehandlung reicht nun allein nicht mehr aus, um eine Tarifnorm zu kassieren – die Ungleichbehandlung muss vielmehr auf einer willkürlichen Entscheidung der Tarifpartner beruhen, was wohl nur selten der Fall sein wird. Zum anderen bekommen die Tarifvertragsparteien – sollte ausnahmsweise ein Rechtsverstoß festgestellt werden – das Steuer in die Hand und können vorrangig vor den Arbeitsgerichten korrigierend in den Tarifvertrag eingreifen.
Noch ist unklar, wie die Tarifvertragsparteien einen im Ausnahmefall festgestellten Verstoß gegen das Gleichheitsgebot korrigieren können. Das Bundesverfassungsgericht blieb in seiner Einschätzung vage und verwies lediglich darauf, dass das Prozessrecht dafür „hinreichende Möglichkeiten“ biete. Eine Option könnte sein, den Rechtsstreit vorübergehend auszusetzen und die Tarifparteien aufzufordern, eine grundrechtskonforme Lösung zu finden.
Offen ist auch, ob die Karlsruher Entscheidung Auswirkungen auf die Behandlung von tariflichen Mehrarbeitszuschlägen für Teilzeitbeschäftigte haben wird. Anders als in den Fällen der Nachtarbeitszuschläge, über die das BVerfG zu entscheiden hatte, spielt im Fall der Teilzeitbeschäftigten das Europarecht eine entscheidende Rolle. Die Rechtsfrage hängt daher nicht nur von der Rechtsprechung des BAG, sondern entscheidend auch von der Sichtweise des EuGH ab. Dieser hatte zuletzt in zwei Entscheidungen (Urt. v. 19.10.2023 - C-660/20 [Lufthansa CityLine] und Urt. v. 29.7.2024 - C-184/22 u.a. [KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation eV]) ganz andere Töne als das BVerfG angeschlagen, indem er die Tarifautonomie (Art. 28 EU-Grundrechtecharta) nicht einmal erwähnt hat. Stattdessen wird hier eine engmaschige Kontrolle der tarifvertraglichen Regelungen auch zukünftig wahrscheinlicher sein als die vom BVerfG verkündete Willkürkontrolle.
Unternehmen sollten vor diesem Hintergrund proaktiv eine Überprüfung der Zuschlagsregelungen für Teilzeitkräfte anstoßen. Im Hinblick auf die tariflichen Nachtarbeitszuschläge können Unternehmen jedoch aufatmen; hier werden sie regelmäßig auf die Wirksamkeit der getroffenen Vereinbarungen vertrauen dürfen.