25. November 2021

Diskriminierung von Arbeitnehmern mit Behinderung bei Kündigung während der Probezeit

  • Briefing

Der Newsletter behandelt den Schlussantrag des Generalanwalts beim EuGH in der Rechtssache
C-485/20 zur Gleichstellung und Förderung von Behinderten, Art. 5 der EU-Richtlinie 2000/78/EG.


Sachverhalt

Die belgische öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft HR Rail stellte einen Facharbeiter für die Wartung ihrer Schienenwege ein. Noch während der Probezeit wurde bei dem Beschäftigten ein Herzproblem diagnostiziert, dass das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderte. Von behördlicher Seite wurde der Beschäftigte daher als behindert anerkannt. Der Herzschrittmacher reagierte empfindlich auf elektromagnetische Felder, wie sie von Schienen ausgehen, und führte dazu, dass der Beschäftigte seiner Tätigkeit am Schienennetz nicht mehr nachgehen konnte. HR Rail untersuchte den Beschäftigten sodann und stellte fest, dass dieser für die Aufgaben, für die er eingestellt wurde, ungeeignet ist. Nachdem der Beschäftigte für eine Zeit im Lager gearbeitet hatte, wurde er entlassen. Der Kläger klagte gegen die Entlassung und machte geltend, wegen seiner Behinderung diskriminiert worden zu sein. 


Schlussantrag des Generalanwalts

Der Generalanwalt plädiert im Ergebnis, Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf wie folgt auszulegen: ein Arbeitgeber stehe in der Pflicht, einen Beschäftigten, der aufgrund einer Behinderung seiner Tätigkeit endgültig nicht mehr nachgehen kann, einen anderen Arbeitsplatz zuzuweisen – auch wenn sich der Arbeitnehmer noch in der Probezeit befindet – sofern der Arbeitnehmer die erforderlichen Kenntnisse und Fachkompetenz für die neue Stelle besitzt und die Maßnahme für den Arbeitgeber keine unverhältnismäßige Belastung darstellt.

Artikel 5 der Richtlinie 2000/78/EG statuiert auszugsweise, dass Arbeitgeber angemessene Vorkehrungen für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung gewährleisten müssen und geeignete und konkrete Maßnahmen ergreifen sollen, um Menschen mit Behinderung die Ausübung eines Berufes zu ermöglichen. Jedoch dürfen diese Maßnahmen den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belasten.

Dem Begriff der „angemessenen Vorkehrungen“ liege die Überlegung zugrunde, einen angemessenen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen und denen des Arbeitgebers zu schaffen. Die Richtlinie 2000/78/EG limitiere diesen Ausgleich nicht auf die Arbeitsstelle, die dem Behinderten ursprünglich angeboten wurde. Vielmehr bleibe die Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz offen. Der Begriff „angemessene Vorkehrung“ sei daher weit auszulegen in der Weise, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasse, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behinderten.

Die Entlassung der Menschen mit Behinderung, die unverschuldet ihrer ursprünglichen Tätigkeit nicht mehr nachgehen können, solle daher nur „ultima ratio“ sein, also das letzte Mittel. 

Der Einsatz eines Mitarbeiters mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens setzt nach der Meinung des Generalanwalts jedoch voraus, dass der Mitarbeiter kompetent, fähig und verfügbar ist, um dadurch die wesentlichen Funktionen des neuen Arbeitsbereiches zu erfüllen. Eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitgebers sollte vermieden werden. In die Abwägung der unangemessenen Benachteiligung seien Faktoren einzubeziehen wie die Größe des Unternehmens, die Kapitalausstattung, der Gesamtumsatz und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln. Als weitere Voraussetzung soll es auch eine freie Stelle geben, die der betroffene Mitarbeiter einnehmen kann. 


Praxishinweis

Nach der aktuellen Rechtslage muss bei der Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters (§ 2 SGB IX) während der sechsmonatigen Probezeit weder eine soziale Rechtfertigung vorliegen, noch muss das Integrationsamt zustimmen
vgl. § 173 Abs. 1 S. 1 Nr.1 SGB IX). Erforderlich ist die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung (§ 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX), sowie die Anhörung des Betriebsrates (§ 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG). 
Es bleibt daher abzuwarten, ob die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs dazu führen wird, dass in Bezug auf die Kündigung von Arbeitnehmern mit Behinderung in der Probezeit in Zukunft ein anderer Maßstab anzulegen ist, als bei Mitarbeitern ohne Behinderung. Teilt der EuGH, wie häufig, die Rechtsmeinung des Generalanwaltes, so ist es möglich, dass die Kündigung eines Mitarbeiters mit Behinderung während der Probezeit erschwert wird. Es müsste sodann vorrangig eine andere Beschäftigung für den Betroffenen gesucht werden. Sowohl Argumentations- als auch Organisationsaufwand für den Arbeitgeber würde sich im Fall der Kündigung erhöhen. Es fragt sich, ob der EuGH mit solch einem Urteil den Menschen mit Behinderung nicht einen Bärendienst erweisen würde, wenn Unternehmen den erhöhten Aufwand scheuen und eine freie Position schon gar nicht anbieten. Fraglich ist auch, welchen Anpassungsbedarf sich sodann auf Normen des SGB IX ergeben würden. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs darf mit Spannung erwartet werden.

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