27. Dezember 2022
Ohne Zweifel eröffnet das Metaverse vielfältige Möglichkeiten. Im Metaverse können bereits jetzt zahlreiche alltägliche Aktivitäten ausgeübt werden. In unzähligen virtuellen Welten können Nutzer fast alles tun, was vorstellbar ist, unter anderem spielen, reisen, lernen, arbeiten und einander begegnen. Diese Vielseitigkeit wirft zahlreiche Rechtsfragen auf, denen Taylor Wessing eine Serie von Insights gewidmet hat
Aus aktienrechtlicher Sicht lässt sich die Frage aufwerfen, ob sich im Metaverse auch eine virtuelle Hauptversammlung abhalten ließe. Diese Frage wird in diesem Beitrag beleuchtet.
Das Metaverse besteht aus unterschiedlichen digitalen, dauerhaft angelegten und gemeinsam nutzbaren Handlungsräumen des Internets, die auf eine Weise miteinander verbunden sind und zusammenwirken, dass dadurch eine erweiterte Realität in Form eines virtuellen Universums entsteht. Mit zunehmendem technischen Fortschritt soll dieses „Universum“ eine zweite Wirklichkeit ergeben, die in ihrer Wahrnehmung der physischen Realität gleichsteht. Anders als die physische Realität ist diese zweite Wirklichkeit aber nicht notwendigerweise an die Naturgesetze und andere herkömmlichen Gesetzmäßigkeiten gebunden.
Die meisten der Aktivitäten im Metaverse werden von den Nutzern durch ihre Avatare ausgeübt. Diese können als virtuelle Stellvertreter einer Person verstanden werden. Avatare werden wie Figuren in einem Videospiel durch die verschiedenen virtuellen Welten gesteuert und vermitteln den dahinterstehenden Nutzern ein mehr oder weniger immersives Erleben der jeweiligen virtuellen Umgebung und der Interaktion mit anderen Avataren.
In Deutschland ist am 27. Juli 2022 das Gesetz „zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturie-rungsrechtlicher Vorschriften“ in Kraft getreten. Durch dieses Gesetz soll die durch das Gesetz „über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungsei-gentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie“ vom 27. März 2020 („COVMG“) übergangsweise geschaffene Rechtslage abgelöst und Aktiengesellschaften dauerhaft die Möglichkeit eröffnet werden, ihre Hauptversammlungen virtuell abzuhalten.
Auf den ersten Blick erscheint eine virtuelle Hauptversammlung im virtuellen Raum denkbar, wenn dabei sämtliche Akteure, also in erster Linie die Aktionäre oder Aktionärsvertreter, die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat und der Notar, vertreten durch ihre jeweiligen Avatare, in einem bestimmten digitalen Präsenzbereich im Internet zusammenwirken.
Gemäß § 118a Abs. 1 Satz 1 AktG n. F. ist jedoch die virtuelle Hauptversammlung legaldefiniert als eine Versammlung am sogenannten Ort der Hauptversammlung, ohne dass dabei die Aktionäre oder die von diesen bevollmächtigten Aktionärsvertreter „physisch präsent“ sind. Das Verständnis des Gesetzgebers ist es offenbar, dass es sich auch bei der virtuellen Hauptversammlung nach wie vor um eine Versammlung handelt. Zu dieser sollen lediglich die Aktionäre (oder ihre Bevollmächtigten) elektronisch zugeschaltet sein. Die Begründung zum Referentenentwurf führt aus, dass die virtuelle Hauptversammlung eine Versammlung ist, an der kein Aktionär durch Anwesenheit am Versammlungsort teilnehmen kann (Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften, S. 14). Wer sich aber zu versammeln hat beziehungsweise durch Anwesenheit am Versammlungsort teilzunehmen hat, beantwortet das Gesetz in § 118a Abs. 2 AktG: Der Versammlungsleiter, die Mitglieder des Vorstands, die Mitglieder des Aufsichtsrats sowie gegebenenfalls der Abschlussprüfer und ein etwaig von der Gesellschaft benannter Stimmrechtsvertreter. Lediglich die Teilnahme der Mitglieder des Aufsichtsrats, sofern sie nicht als Versammlungsleiter fungieren oder als Vertreter für den Fall seiner Verhinderung benötigt werden, darf auch im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen, wenn dies in der Satzung so vorgesehen ist.
Aufgrund des dem Gesetz zu Grunde gelegten Versammlungsbegriffs stehen einer virtuellen Hauptversammlung im Metaverse damit gleich mehrere Hindernisse entgegen.
Obwohl das Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften vor dem Hintergrund der in den letzten drei Hauptversammlungssaisons gesammelten grundsätzlich positiven Erfahrungen mit dem neuen Format und der fortschreitenden Digitalisierung auch des Aktienrechts ersonnen wurde, gehen seine Bestimmungen noch nicht so weit, dass dadurch bereits die Verlegung der Hauptversammlung in das Metaverse ermöglicht würde.
Dieser Befund mag nicht überraschen. Der Gesetzgeber muss nicht jeden Trend aufgreifen und bei neuen Gesetzesbestimmungen bedenken. Da das Metaverse aktuell ein noch nicht hinreichend etabliertes Gebilde im Entstehen ist, kann die Gesetzgebung die Entwicklung weiter beobachten und abwarten, welche Elemente sich langfristig durchsetzen und bei den Nutzern akzeptiert werden.
Das erörterte Beispiel des Metaverse zeigt aber auch, dass die virtuelle Hauptversammlung gemäß § 118a AktG gar nicht so virtuell ist wie es der Begriff nahelegt. Bei Lichte betrachtet handelt es sich um eine hybride Veranstaltung. Daraus folgt für die in den Unternehmen mit der Durchführung der Hauptversammlung befassten Stellen und Rechtsanwender, dass auch eine weniger progressive und praxistauglicher intendierte Herangehensweise, wie sie während der Geltung des COVMG noch möglich war, de lege lata ausgeschlossen ist. So ist eine virtuelle Hauptversammlung, in der nur einzelne der Beteiligten an einem Ort beisammen sind oder in der sogar alle Beteiligten ausschließlich über Video- oder Telefonkonferenz zusammenwirken, nicht möglich. Die Möglichkeit für eine solche Herangehensweise wäre für manche Gesellschaften, etwa mit einem überschaubaren Kreis von Aktionären und Verwaltungsmitgliedern, durchaus erwägenswert gewesen.
Das Präsenzgebot für sämtliche Organmitglieder, insbesondere den kompletten Aufsichtsrat, erscheint auch in einer Präsenzhauptversammlung als ein Relikt, das erhöhten Aufwand bei Vorbereitung und Durchführung der Versammlung – man denke nur an die räumlichen Anforderungen an den Versammlungsort –, aber keinen auch nur annähernd verhältnismäßigen Mehrwert mit sich bringt. Auch dürften die mit An- und Abreise der Aufsichtsratsmitglieder gegebenenfalls verbundenen Emissionen mit den Nachhaltigkeitsbemühungen des Gesetzgebers und vieler Unternehmen kaum in Einklang zu bringen sein. Da die Aufsichtsratsmitglieder mit den heutigen technischen Mitteln ebenso gut im Wege der Bild- und Tonübertragung teilnehmen und sich – wie die Aktionäre – gegebenenfalls äußern könnten, wird nicht ersichtlich, warum der Gesetzgeber ihre gleichzeitige Anwesenheit am Ort der Hauptversammlung in beiden Formaten (virtuelle Hauptversammlung und Präsenzhauptversammlung) voraussetzt.
Während kurz nach dem Inkrafttreten die Praxis Zustimmung zu der neuen gesetzlichen Regelung nur sehr verhalten zum Ausdruck bringt und die Bewertungen im Mittelfeld überwiegen (vgl. die Ergebnisse der von Taylor Wessing gemeinsam mit Edelman Smithfield im Juli und August 2022 durchgeführten Befragung), sehen kritische Stimmen in dem neuen Format sogar lediglich eine Nachbildung der hergebrachten Präsenzhauptversammlung in einem digitalen Gewand und eine vertane Chance für eine echte Weiterentwicklung. Einige Gesellschaften erwägen dem Vernehmen nach, von dem neuen Modell keinen Gebrauch zu machen und stattdessen wieder zu dem klassischen Format der Präsenzversammlung zurückzukehren.
Jenseits der hier beleuchteten Thematik der Anwesenheit enthält das Gesetz aber auch Chancen bereit. Viele Unternehmen zeigen sich offen, die neuen Möglichkeiten zu nutzen und zu erproben. Zudem sind in vielen Einzelfragen noch keine unumstößlichen Festlegungen erfolgt. Das Gesetz bietet verschiedene Wahlrechte und Gestaltungsoptionen, die es den Gesellschaften ermöglichen, das Format in einem gewissen Rahmen an ihre spezifischen Bedürfnisse anzupassen. In den nächsten Jahren erst wird sich zeigen, welche Ausgestaltungen sich bewähren und in welchen Punkten Reformbedarf besteht. Diese Entwicklung sollte auch der Gesetzgeber aufmerksam beobachten.